Reisebericht Rajasthan – Tag 4 von 8 – Halbzeit: Auf dem Weg nach Ranthambore, ein Reisetag voller Überraschungen

Ein britischer Gentleman in Indien

Morgens, kurz vor der Abreise. Da war er noch – unser Nachtportier! Hatte ich ihm doch gestern schon „auf dem Schirm“ und gehofft ihn früh zu „erwischen“. Diese weißen Haare, dieser britische Schnauzbart wie aus einem alten Kolonialfilm… Der Mann hatte einfach Stil! Und eine Ausstrahlung – unbeschreiblich. Als hätte die Zeit ihn vergessen oder sie wäre einfach bloß stehen geblieben. Kamera gezückt, freundlich gefragt – und sein Lächeln war das erste Highlight des Tages. Manchmal muss man einfach Glück haben! Der Tag begann gut.

Indien erwacht – ein Straßenballett am frühen Morgen

Wer Indien verstehen will, muss es morgens sehen. Wenn die Städte erwachen, spielt sich ein faszinierendes Schauspiel ab. Da werden Straßen gewässert (gegen den Staub – clever!), Menschen hocken am Straßenrand und warten. Worauf? Auf öffnende Geschäfte, auf potenzielle Arbeitgeber, auf den Tag selbst vielleicht.

An Sammelstellen stehen Gruppen von Männern – Tagelöhner, die hoffen, heute Arbeit zu finden. Manche sind von weit her gekommen, aus anderen Bundesstaaten. Der Traum von Arbeit kennt keine Grenzen, nicht mal die zwischen indischen Bundesstaaten.

Straßenverkehr – das tägliche Chaos

Durch jedes Dorf, jede Kleinstadt schlängelt sich unser Wagen. Der Verkehr? Wie immer in Indien: Ein organisiertes Chaos! Tuk Tuks zwängen sich durch unmögliche Lücken, LKW-Fahrer winken uns freundlich zu. Alle hupen, niemand ist sauer.

Ist das noch Verkehr oder schon Kunst? Jedenfalls eine Choreographie, die niemand einstudiert hat und die trotzdem funktioniert. Irgendwie. Meistens.

Überraschungsbesuch in der Dorfschule

Und dann passierte es – einer dieser ungeplanten Momente, die eine Reise unvergesslich machen. Unser Guide erfuhr, dass ich Lehrer bin. Seine Augen leuchteten auf: „Ich habe da eine Idee…“

Plötzlich bogen wir ab von der Hauptstraße, holperten einen Feldweg entlang. Vor uns: eine staatliche Dorfschule. 270 Schüler, Klasse 1 bis 12. Einfach so reingeschneit kamen wir – typisch deutsch hätte ich jetzt Bedenken gehabt, aber hier?

Die Direktorin empfing uns mit dieser typisch indischen Mischung aus Überraschung und Gastfreundschaft. Stolz führte sie uns herum. Auf dem Schulhof saßen Klassen im Morgenlicht – die Klassenräume noch zu kalt von der Nacht. Was für ein Bild! In anderen Räumen drückten sich neugierige Gesichter meiner Kamera und damit uns entgegen.

Ein perfekter Moment für Fotos, aber noch mehr für’s Herz. Diese Disziplin, diese Neugier in den Augen der Kinder… Währenddessen schwitzten in zwei Räumen die 10. und 12. Klassen über ihren Prüfungen. Manche Dinge sind wohl überall gleich!

Die Randexistenzen des Alltags – Leben an der Straße

An einer Raststätte entfaltet sich vor meinen Augen ein Panorama des indischen Lebens in all seinen Facetten – wie ein Geschenk, das sagt: „Nimm auch diese Bilder mit, sie gehören zum Ganzen.“

Mein Blick fällt zuerst auf eine Frau, die Kuhdung gesammelt hat. Was für uns befremdlich erscheinen mag, ist hier essentieller Teil des Überlebens: der getrocknete Kuhdung, mit Stroh vermischt, wird als Brennmaterial dienen, kostengünstig und verfügbar. In dieser einfachen Handlung liegt eine tiefe ökologische Weisheit, die lange vor unseren modernen Diskussionen über Nachhaltigkeit existierte.

Unweit von ihr geht eine Frau mit ihrer Tochter langsam die Straße entlang. Ihre abgetragene Kleidung, ihre müden Schritte erzählen von einem Leben am Rande des Existenzminimums. Die Kleine hält sich dicht an der Mutter, ihr Blick neugierig, unbeschwert, noch nicht belastet vom Gewicht der Armut. In ihren Augen liegt jene kindliche Hoffnung, die selbst unter härtesten Umständen zu überleben vermag. Für einen Moment kreuzt sich ihr Blick mit meinem, und sie lächelt – ein Geschenk, das keine Armut mindern kann.

Der Fluss, der Durst und die Erfindung

Illegaler Sandraub. Der Bauboom in den Städten hat einen unersättlichen Durst nach Sand geschaffen, und wo Bedarf ist, findet sich immer ein Weg. Der nahe gelegene Fluss ist eine improvisierte Sandmiene und die Männer werden die kostbare Ressource zu Bauunternehmen bringen, ein gefährliches Spiel mit dem ökologischen Gleichgewicht des Flusses. In der Armut aber eine Notwendigkeit. Wer von uns soll da ein Urteil fällen? Ich tue es nicht.

Auf der Straßenseite gegenüber werde ich Zeuge einer bemerkenswerten Improvisation: Junge Männer haben aus dem Heckteil eines ausgedienten Jeeps und dem Motor einer Wasserpumpe einen behelfsmäßigen Traktor konstruiert. Das Gefährt würde jedem deutschen TÜV-Prüfer graue Haare bescheren, aber hier ist es ein Triumph des Einfallsreichtums. Mit stolzgeschwellter Brust erklären sie mir (über unseren Guide als Dolmetscher), dass sie damit Transportdienste anbieten und so ihren Lebensunterhalt verdienen.

„Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung,“ sagt unser Guide mit einem Augenzwinkern. „Und in Indien ist die Notwendigkeit eine sehr fruchtbare Mutter.“

Das vielschichtige Indien

Diese letzte Raststätte fasst alles zusammen, was Indien ausmacht: vielfältig, bunt, hart – ein Land der schärfsten Kontraste und der unglaublichsten Anpassungsfähigkeit. Hier existieren Jahrhunderte nebeneinander – die uralte Praxis der Kuhdungsammlung neben improvisierter Ingenieurskunst, bittere Armut neben unternehmerischem Einfallsreichtum.

Was mich am meisten beeindruckt, ist die Resilienz, die aus jeder dieser Szenen spricht. Die Fähigkeit, unter schwierigsten Bedingungen nicht nur zu überleben, sondern Wege zu finden, voranzukommen, sei es durch altbewährte Traditionen oder kreative Neuerfindungen.

Während wir wieder in unser Auto steigen, schaue ich ein letztes Mal zurück auf dieses lebendige Tableau. Es ist, als wollte Rajasthan sicherstellen, dass ich nicht mit einem romantisch verklärten Bild abreise, sondern mit einem ehrlichen Eindruck seiner Wirklichkeit – mit all ihren Härten und Wundern, ihrer Armut und ihrem Erfindungsreichtum.

In diesem letzten Bild liegt eine Wahrheit, die vielleicht tiefer geht als die Pracht des Taj Mahal oder die Majestät der Paläste: dass das wahre Indien in den alltäglichen Kämpfen und Triumphen seiner Menschen lebt, in ihrer unbeugsamen Entschlossenheit, einen Weg zu finden – egal wie steinig der Pfad auch sein mag.

Mit dieser Erkenntnis im Herzen setzen wir unsere Reise fort, bereichert nicht nur durch die Schönheit, die wir gesehen haben, sondern auch durch die Lektionen in Menschlichkeit, Anpassungsfähigkeit und unbezwingbarem Lebenswillen, die uns Rajasthan so großzügig geschenkt hat.

Frauenpower in der Textilkooperative

Der Tag war noch nicht zu Ende. Letzte Station: eine Textilkooperative. 600 Frauen aus den umliegenden Dörfern arbeiten hier. Sie fertigen… eigentlich alles: Bettwäsche, Tischdecken, Schals, T-Shirts. Handarbeit, perfekt ausgeführt.

Der stellvertretende Chef der Kooperative? Ein Verkaufstalent! Aber wisst ihr was? Es fühlte sich gut an, hier zu kaufen. Kein Tourist-Nepp, sondern echte Handarbeit. Das Geld geht direkt an die Frauen, die diese wunderschönen Dinge herstellen. Win-win, würde man in Deutschland sagen.

Ende eines langen Tages

Nachmittags nun erreichten wir unser Hotel in der Nähe von Ranthambore. Morgen geht’s auf Tiger-Safari. Ob wir einen der gestreiften Könige vor die Linse bekommen? Die Spannung steigt!

Aber selbst wenn nicht – dieser Tag war schon ein Geschenk. Keine Sehenswürdigkeit der Welt kann mit diesen authentischen Einblicken in den indischen Alltag mithalten. Das sind die Momente, die man nicht planen kann, die sich nicht in Reiseführern finden. Die man einfach erleben muss.

Ich liege im Bett und schaue die Bilder des Tages durch: Der Nachtportier mit seinem britischen Schnauzbart. Die Schulkinder auf dem sonnenbeschienenen Schulhof. Die fleißigen Frauen in der Kooperative. Und zwischendrin tausend kleine Momente am Straßenrand.

Morgen also Tiger. Aber das… das ist wird eine andere Geschichte, eine weitere Facette dieses tollen Landes.

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