Der frostige Aufbruch ins Abenteuer
Der Tag beginnt früh und kalt – so kalt, dass wir uns nach dem Motto Zwiebelschalen ankleiden müssen, als wir im Morgengrauen aus dem warmen Hotelbett fallen. Aber was tut man nicht alles für einen Tiger? Der Nationalpark Ranthambore, so weitläufig wie der Bayerische Wald, verspricht das ultimative Wildlife-Erlebnis: Seine majestätischen Raubkatzen in freier Wildbahn zu sehen.
„Die Chance liegt nur bei 30-40% pro Safari,“ hatte ich im Netz am Vorabend gelesen, aber wir haben ja die Götter der Wildnis bestochen mit unserer Anwesenheit und Neugier. Mit dem Zwiebelprinzip gewappnet – für jede mögliche Temperatur von „eisig“ bis „indische Mittagshitze“ – ging es los.
Nächtliche Begegnung der besonderen Art
Noch im Dämmerlicht bringt uns der Fahrer vom Hotel zum Parkeingang. Die Straße schlängelt sich durch verschlafene Dörfer, als plötzlich eine Gestalt unseren Scheinwerferkegel kreuzt. Eine Hyäne! Und was für ein Exemplar – ein wahrer Koloss verglichen mit ihren afrikanischen Verwandten, die wir von früheren Reisen kennen.
„Willkommen in der Wildnis Rajasthans,“ murmle ich fasziniert vor mich so hin, während mein Puls hochschnellt. „Hier teilen sich Mensch und Tier das Land seit Jahrtausenden.“ Ich bin fasziniert von Wildlife, hier finde ich es wirklich.
Safari-Start mit Hindernissen
Um 7 Uhr klettern wir auf einen offenen Safari-Truck, unsere Kameras griffbereit, die Erwartungen himmelhoch. Die morgendliche Kälte kriecht durch unsere Jacken, während der Fahrer uns durch holprige Pfade navigiert. Um uns herum erwacht der Dschungel: Affen turnen durch die Bäume, Hirsche grasen vorsichtig auf Lichtungen, und irgendwo – hoffentlich – streckt sich ein gestreifter Räuber nach einer Nacht der Jagd.







„Kennt ihr den Unterschied zwischen einem Touristen und einem Fotografen?“
„Der Tourist fragt: ‚Wo ist der Tiger?‘ Der Fotograf fragt: ‚Wo ist das beste Licht?'“ Heute bin ich irgendwie beides und unsere Augen scannen unermüdlich die Büsche.
Die Königin des Dschungels
Plötzlich bremst der Fahrer abrupt. Aufregung macht sich breit, alle zücken wie in Trance ihre Handys, Tablets und Kameras. Dort, zwischen hohem Gras, liegt sie majestätisch und unbeeindruckt: eine Tigerin in voller Pracht. Leider verdecken Grashalme teilweise ihr Gesicht, als hätte Mutter Natur bewusst einen Schleier vor die perfekte Fotogelegenheit gezogen.
„Typisch,“ flüstere ich und ringe gleichzeitig um den besten Winkel mit meinem Teleobjektiv – während neben mir ein halbes Dutzend indischer Touristen verzweifelt versucht, mit ihren Smartphones das zu erfassen, was nur ein professionelles Objektiv einfangen kann.
In einem Anfall von Großzügigkeit – oder vielleicht war es Mitleid angesichts ihrer digitalen Bemühungen – zeige ich ihnen das Bild auf meinem Display. Ihre begeisterten Ausrufe und das hastige Abfotografieren meines Displays lassen mich schmunzeln. Tiger gesehen? Check! Kultureller Austausch? Doppel-Check!




Der Nachmittag: Von Enttäuschungen und unerwarteten Begegnungen
Am Nachmittag versuchen wir unser Glück in einem anderen Bereich des Parks. Die Stimmung ist entspannt, die Erwartungen realistischer. Kein Tiger weit und breit, aber dafür umso mehr Zeit, die atemberaubende Landschaft zu bewundern: Felsformationen, die in der Nachmittagssonne golden leuchten, Seen, die wie Spiegel das Blau des Himmels reflektieren, und eine Vielfalt an Vögeln, die selbst eingefleischte Ornithologen zum Staunen bringen würde.
















„Der Tiger ist wie ein strenger Lehrer,“ philosophiere ich für mich. „Er erscheint nur, wenn du nicht nach ihm suchst!“ Wir müssen uns damit abfinden, dass unser morgendliches Glück sich nicht wiederholen wird. Aber da waren wir ja bei den 30% Erfolgsquote dabei. Passt.
Ein Porträt der Würde






Am Parkrand warten Verkäufer und Händler. Während andere Touristen nach Schnäppchen jagen, jage ich nach etwas Wertvollerem: authentischen Begegnungen. Mein Blick fällt auf einen älteren Mann am Rande des Geschehens. In einem abgetragenen, aber penibel gepflegten Outfit mit Anzug, mit einem Pullover und einem sorgfältig drapierten Tuch darunter, sitzt er da – ein Bild der Würde inmitten des geschäftigen Treibens, dass ihn selbst aber einfach ignoriert.

Sein Blick trifft meinen, und für einen Moment verständigen wir uns wortlos. Seine Augen sagen: „Hier bin ich, und so bin ich. Lass mich einfach ich selbst sein.“ Ich hebe fragend meine Kamera, und er nickt kaum merklich. Das resultierende Porträt wird vielleicht nie in einem Hochglanzmagazin erscheinen, aber es hat etwas eingefangen, was teurer ist als jeder Tiger-Schnappschuss: menschliche Würde in ihrer reinsten Form.
Während wir zum Hotel zurückfahren, denke ich an die Kontraste dieses Tages: die wilde Schönheit der Natur und die stille Eleganz eines Mannes am Rande der Gesellschaft. Beide tragen ihre Würde wie ein unsichtbares Gewand – unanfechtbar, zeitlos und von einer Schönheit, die tiefer geht als jedes Foto erfassen kann.
Steckt in uns allen nicht ein bisschen Tiger und ein bisschen dieses stolzen alten Mannes? Der Wunsch, wild und frei zu sein, und gleichzeitig die Sehnsucht nach Würde, selbst wenn das Leben uns zerzaust hat? Mit diesen Gedanken schlafe ich ein, während draußen die Geräusche Indiens ein Schlaflied summen, das älter ist als die Zeit selbst. Die Geräusche? Vögel, Affen, ein Rudel Kojoten. Wildlife – wir sind mitten drin.