Eine Pause vom Touristenpfad
Der sechste Tag unserer Rajasthan-Erkundung bricht an – eine lange Fahrt nach Bharatpur steht bevor, unser Zwischenstopp auf dem Weg nach Agra. Vorbei an Ziegeleien, die den geformten Ton erst trocknen und dann in solchen Kaminen mit Reisig brennt. Wer glaubt, Transfertage seien bloß langweilige Notwendigkeiten, kennt unseren Guide nicht. Er hat längst meine Leidenschaft für authentische Begegnungen erkannt und lässt den Fahrer spontan an einem Wochenmarkt in einem Dorf halten, das auf keiner Touristenroute verzeichnet ist.
Der Dorfmarkt: Ein Kaleidoskop des ländlichen Indiens
Kaum steigen wir aus dem klimatisierten Wagen, umfängt uns die vibrierende Atmosphäre des Marktes – ein Farbenrausch für die Sinne und ein Festmahl für meine Kamera. Zwischen Ständen mit pyramidenartig aufgeschichteten Gewürzen und buntem Gemüse bewegen wir uns als einzige Ausländer, und doch fühlt es sich nicht fremd an.
Was mich immer wieder überrascht: Die Menschen lächeln uns an, als wären wir erwartete Gäste, nicht zufällige Eindringlinge. Ein Schmied lächelt schüchtern, als ich auf meine Kamera deute. Der Schuster nebenan richtet sich stolz, bevor er in die Linse blickt. Die Menschen bringen ihre kaputten Schuhe auf den Markt mit, geben sie ihn, handeln, kaufen, verkaufen und abends nehmen sie ihre reparierten Schuhe wieder mit. So ist sein Alltag auf dem Markt und er st stolz darauf.
„Darf ich Sie fotografieren?“ – eine Frage, die ich mit Mimik, Gestik und in Englisch stelle, öffnet Türen zu Momenten von solcher Authentizität, dass mein Herz hüpft. Trotz mancher Absagen, denn nicht jeder hat auch Zeit und ist in Eile. Trotzdem bekomme ich Fotos von ihnen. Salgado sagte einmal: Ein Porträt ist ein Foto, dass dir jemand schenkt. Ein alter Bauer, dessen faltiges Gesicht wie eine topografische Karte seines Lebens wirkt, nickt bedächtig, als ich ihn bitte. In seinen Augen spiegelt sich eine Lebenserfahrung, die keine Universität der Welt lehren könnte.
In einer abgelegenen Gasse entdecke ich einen Mann, der akribisch die letzten Krümel Tabak aus einem Stoffbeutel sammelt – ein flüchtiger Moment der Vulnerabilität, den ich fast nicht zu stören wage. Doch als er aufsieht und mein Interesse bemerkt, formt sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. „Ji, ji“ (Ja, ja), nickt er, als verstünde er genau, was mich an diesem Augenblick fasziniert.
Die Frauen bleiben eine Herausforderung – ihre Zurückhaltung gegenüber der Kamera ist tief kulturell verankert. Doch mit Geduld und respektvoller Distanz gelingen mir auch hier Porträts, die mehr erzählen als tausend Reiseführer. Augen sagen so viel.
Ich denke unwillkürlich: Wären nur überall auf der Welt Menschen so offen und freundlich – so bereit, einen flüchtigen Moment ihres Lebens mit einem Fremden zu teilen.















Bharatpur – Keoladeo-Ghana-Nationalpark:
Wo die Vögel der Welt sich versammeln
Am Nachmittag erreichen wir Bharatpur, wo der berühmte Keoladeo-Nationalpark – ein UNESCO-Welterbe – auf uns wartet. Am Eingang empfängt uns ein würdevoller Mann mit prächtigem Turban und grau meliertem Bart. Mit der Gelassenheit jahrzehntelanger Erfahrung koordiniert er die Zuteilung der Besucher zu den spezialisierten Guides. Als ich ihn fotografiere und ihm das Bild auf meinem Display zeige, strahlt er: „Send me, please!“ Eine E-Mail-Adresse wird notiert, ein Versprechen gegeben, das ich später einlösen werde.

Unser zugewiesener Guide entpuppt sich als wandelnde Enzyklopädie der Ornithologie. Bewaffnet mit einem Fernrohr, das er liebevoll hält und verpackt, führt er uns durch dieses Vogelparadies mit einer Begeisterung, die ansteckender ist als jeder Schnupfen. „Da drüben, sehen Sie? Ein Schwarzhalsstorch! Und dort – nein, nicht da, etwas mehr links – ein Purpurreiher!“ Seine Fähigkeit, selbst die scheusten Vögel zu erspähen, grenzt ans Übernatürliche.
Was mich besonders beeindruckt: Er kennt nicht nur die englischen und lateinischen Namen jeder Art, sondern hat sich auch die deutschen Bezeichnungen angeeignet – eine Geste, die seine Hingabe zu seinem Beruf unterstreicht. „Dieser hier ist der Dschungelbussard – Butastur teesa,“ erklärt er stolz, während er das Fernrohr justiert, damit wir den majestätischen Greifvogel in voller Pracht bewundern können.
Durch seine Augen wird der Park lebendig – nicht nur als Heimat seltener Vögel, sondern als komplexes Ökosystem, in dem jede Art ihre Rolle spielt. Seine Erklärungen sind keine auswendig gelernten Floskeln, sondern entspringen einer tiefen, persönlichen Verbindung zur Natur. „Wissen Sie,“ sagt er an einer besonders idyllischen Stelle, „ich komme seit Jahren jeden Tag hierher, und jeden Tag entdecke ich etwas Neues. Das ist das Wunder der Natur.“




Resümee eines erfüllten Tages
Als wir am Abend in unserem Hotel in Bharatpur ankommen, bin ich erschöpft, aber auf jene tiefbefriedigende Weise, die nur ein Tag voller bedeutsamer Erfahrungen schenken kann. Dies war kein Urlaubstag im herkömmlichen Sinne – es war ein Reisetag im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Reise durch authentische Lebenswelten und natürliche Wunder, die den Hunger nach mehr nur verstärkt hat.
Während ich meine Kamera ausschalte und die Bilder des Tages Revue passieren lasse, wird mir klar: Es sind nicht die großen Monumente und berühmten Sehenswürdigkeiten, die mein Herz berühren, sondern diese unerwarteten Begegnungen – der Tabaksammler, der stolze Turbann-Träger am Parkeingang, unser leidenschaftlicher Vogelexperte. Sie alle haben diesen Tag zu einem unvergesslichen Kapitel unserer Rajasthan-Reise gemacht.
Die Sehnsucht nach der Ferne, nach anderen Kulturen und Naturwundern – sie wird nicht gestillt durch solche Tage. Im Gegenteil: Sie wird neu entfacht, wie ein Feuer, das frisches Holz erhält. Und das ist vielleicht das größte Geschenk des Reisens: dass es uns immer hungriger macht auf mehr.